Erich Mühsams Tagebücher in der Festungshaft
Johannes Ullmaier
Posted 30 May 2015 by Alkibiades
In 2008, literary scholar Johannes Ullmaier was invited to speak at the annual meeting of Chaos Computer Club. As his topic, he chose the personal journal written by German anarchist and poet Erich Mühsam (6 April 1878 – 10 July 1934), and the way it was used against him by the authorities after Mühsam’s incarceration in 1919.
In his talk, Ullmaier interprets the historical facts as foreboding characteristics of a ‘stone age of surveillance’, which allows him to draw parallels to contemporary legislation on privacy and surveillance in Germany.
- Date of recording: Sat, 2008-12-27
- Language(s) spoken: German
00:09 Introduction/Einleitung
Mod: Ok, nächster Vortrag ist von Johannes Ullmaier. Ton ok?
…
Also, dritter Versuch: nächster Vortrag von Johannes Ullmaier, “Erich Mühsams Tagebücher in der Festungshaft. Eine Idylle aus der Überwachung… aus der Analogsteinzeit der Überwachung.”
JU: Ja, herzlich willkommen. Ich komme mir vor, ein bisschen, wie in einer Zeitmaschine. Um mich kurz vorzustellen, mein Name ist Johannes Ullmaier, ich bin Literaturwissenschaftler und komme mir hier vor wie aus einer Zeitmaschine in ein anderes Jahrhundert gebeamt.
Ich habe, muss ich auch gleich warnen, sozusagen schreckliche Nachrichten, ich habe keine Laptop-Präsentation, keine PowerPoint-Präsentation, und ich bin absolut auf meine Stimme angewiesen bei diesem Vortrag. Und das Thema ist zusätzlich auch noch etwas, wie der Titel schon gesagt hat, aus der Steinzeit, nämlich aus einer Zeit lang vor der Etablierung des Internet, auch lang vor der Erfindung der Computer, oder in der Frühzeit der Erfindung der Computer.
Trotzdem danke ich dann umso mehr dem Chaos Computer Club, dass er mir Gelegenheit gibt, hier, heute, zu Euch oder zu Ihnen zu sprechen, und zwar über Erich Mühsam, der, und das hat, glaube ich – oder bringt es mit sich, wenn man über die Steinzeit spricht, spricht man gleichzeitig auch über die Gegenwart, und das kann man vielleicht an Erich Mühsam ganz gut zeigen. Und zwar daran, was Erich Mühsam in der Zeit nach der Münchener Räterepublik in der Festungshaft mit seinen Tagebüchern passiert ist.
02:13 Biographie Erich Mühsams
Zunächst mal ganz kurz, weil das vielleicht nicht allgemein bekannt ist, wer war Erich Mühsam? Erich Mühsam ist ein deutschsprachiger Dichter, Schriftsteller, auch Anarchist, deshalb in der Tradition des Chaos Computer Club gar nicht uninteressant zu kennen. Er hat auch einige gesellschaftstheoretische Schriften geschrieben, die wichtig sind, “Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat” zum Beispiel, die wichtigste, die man auch heute noch – gerade auch als Datenschützer noch – mit Gewinn lesen kann.
Er hatte alle möglichen Zeitungsprojekte, war ein großer Bohemien, hatte die wildesten Liebschaften, bohemienhafte Freunde, hat sozusagen im Leben experimentiert, hat ganz früh Ascona besucht, zum Beispiel über Homosexualität geschrieben in der Zeit, als es noch absolut nicht en vogue war. Er hat, um das kurz zu skalieren, er hat von 1878 bis 1934 gelebt. Er kommt ursprünglich aus Lübeck, er ist mit Thomas Mann auf dieselbe Schule gegangen, hat dann aber einen ganz anderen, anti-bürgerlichen, anarchistischen Weg genommen. Das hat ihm viele Probleme gemacht, ihn aber auch immer befeuert, durch sein ganzes Leben. Er ist eigentlich eine Ikone des Widerstands, kann man sagen, für die damalige Zeit.
Er ist 1934 dann unter bestialischen Umständen gestorben, denn er ist als Jude, Linker, Anarchist und kluger Intellektueller sozusagen in jeder Hinsicht auf der Abschussliste der Nazis gestanden. Er wollte fliehen, hat das knapp nicht geschafft, und ist dann inhaftiert und durch alle möglichen Konzentrationslager geschleppt worden und auf entsetzliche Art gefoltert worden und dann, irgendwann, an diesen Folterungen gestorben. Man hat behauptet, es wäre Selbstmord gewesen, das war aber kein Selbstmord, das ist inzwischen klar.
Womit er für uns jetzt interessant ist, heute, und unter dem Thema “Nothing to hide”, ist ein ganz bestimmter Werkteil von Erich Mühsam, vielleicht auch der Wichtigste, trotz aller anderen wichtigen Schriften… Aber er hat eigentlich seit Beginn des 19. Jahrhunderts intensiv Tagebuch geschrieben.
Er hat sich selbst vergewissert über sein Tagebuch, und diese Tagebücher sind auch erhalten geblieben, zum Teil, fast 10.000 Seiten (ein Teil ist verloren) in verschiedenen Heften, ein Teil ist auch veröffentlicht worden, und aus diesen Veröffentlichungen werde ich auch heute eben zitieren.
Und diese Tagebücher sind sehr bunt, es ist wie bei vielen Schriftstellern so ein Steinbruch für Ideen, Selbstvergewisserungen, er dokumentiert da seine ganzen Liebesaffären, seine ganzen Händel, dann hasst er seinen Vater, weil der ihm kein Geld gibt und so weiter für seine Zeitungsprojekte, und dann hofft er immer, dass der stirbt, und dann fühlt er sich schlecht, weil er doch noch nicht stirbt, und so weiter. Also, ein sehr tiefes Zeugnis, sehr ehrlich, sehr scharf, diese Tagebücher.
Ab 1919 gibt es dann sozusagen eine Wendung ins Politische. Der frühere Bohemien Mühsam, der mit allen möglichen Literaten, Künstlern, Frauen, immer zusammen war, hauptsächlich in der Kunstszene, Literaturszene, war vorher schon stark politisiert, hat mit Gustav Landauer vor allem eine anarchistische Vereinigung, kann man sagen, gegründet, hat auch versucht, so kleine Club-Zusammenführungen zu machen.
Und am Ende vom ersten Weltkrieg, als eben die Revolution ausbrach, und das Kaiserreich in sich zusammenbrach, gab es in München bekanntermaßen eben diese kurze Münchener Revolution, die kurze Münchener Räterepublik unter Führung von Leuten wie Landauer. Die ist sehr schnell niedergeschlagen worden. Mühsam war da beteiligt, das hat nur wenige Wochen gedauert. Und wie man sich vorstellen kann, sind diese kommunistischen, linken Revolutionäre als der Aufstand niedergeschlagen war sehr hart abgeurteilt worden. Sie sind in sogenannte Festungshaft gekommen, und in dieser Festungshaft verändert sich natürlich, wie immer, wenn man in Haft kommt, der Charakter des Schreibens als auch dieser Tagebücher. Es geht dann eben um die Haft, und es geht vor allem um die Bedingungen, unter denen das Ganze stattfindet.
Diese Festungshaft, muss man sich vorstellen, das war eigentlich eine Art Luxushaft in der damaligen Zeit, auch wenn das heute hart klingt: Festungshaft. Im Vergleich zum Zuchthaus ging es den Leuten dort etwas besser. Das kann man auch schön im historischen Vergleich sehen, wenig später war ja dann der Hitler-Kapp-Putsch, Hitler wurde auch inhaftiert in Landsberg, und Hitlers Festungshaft war eigentlich die luxuriöseste Haft die man sich vorstellen kann. Er konnte Besuch empfangen, er konnte dem Hess “Mein Kampf” diktieren, und so weiter. Der Gefängnisdirektor war auf seiner Seite, er hatte freien Briefverkehr, es ging ihm da eigentlich sehr, sehr gut.
06:39 Tagebücher über Tagebücher: ein mediales Paradoxon
Bei den linken Aufständlern, die in anderen Gefängnissen waren, war die Lage nicht so gut, aber es war doch immerhin etwas komfortabler als im normalen Zuchthaus. Mühsam hat auch die Möglichkeit weiterhin gehabt, die Tagebücher zu schreiben, die hat man ihm gelassen. Er konnte auch sonst schreiben. Man hat allerdings, und das ist jetzt das, wo es, glaube ich, interessant wird (wie ich hoffe) und was ich jetzt so in der nächsten halben Stunde entfalten möchte: er hat die Tagebücher weiterhin geschrieben, und man hat aber bei Zellendurchsuchungen, das werde ich gleich im Einzelnen erzählen, ihm seine Tagebücher weggenommen. Er ist eigentlich ein früher Fall - und deswegen die ‘Analogsteinzeit der Überwachung’ – er ist eigentlich ein frühestes, vielleicht sogar das erste Beispiel in der Geschichte, oder zumindest in der deutschen Literaturgeschichte, dem die intimste Form vom Staat enteignet und ausgewertet wurde.
Und das ist natürlich jetzt, nach der Verabschiedung des BKA-Gesetzes, das ja jetzt durch ist, und darauf kann man vielleicht ein bisschen mit achten, wenn ich diese alten Zitate aus den frühen 20er Jahren bringe, das ist eigentlich die Situation, in der wir alle, die wir mit irgendwelchen Computern und Festplatten am Internet angeschlossen sind, im Prinzip jetzt sind. Also das, was eigentlich damals der Standard war für einen gefangenen Anarchisten in Festungshaft, der irgendwie für seine revolutionären Umtriebe bestraft werden sollte – von einer sehr rechtslastigen Justiz damals – das ist, im Prinzip, jetzt, und das ist vielleicht das Erschreckende und damit aber auch Gegenwärtige dieser ganzen Sache, das ist im Prinzip die Situation, in der man potentiell – oder in der wir jetzt potentiell auch sind.
Gut, ich werde versuchen… Worum es mir dabei hauptsächlich auch geht, das gibt es vielleicht noch zu sagen, ist anhand dieser Auszüge, das ist so eine Art Schlagabtausch, das hat auch etwas Absurdes.
Denn ich bringe jetzt hauptsächlich Tagebuchstellen aus Mühsams Tagebuch, und das ist ja auch ein bisschen paradox: er schreibt quasi über die Entwendung des Tagebuchs im Tagebuch. Und das ist eine etwas absurde Situation, und auch diese absurde Situation, diese Feedbackschleifen, die entstehen, wenn man quasi in einer Form spricht, die eigentlich intim sein soll, wie das Tagebuch - was Mami nicht lesen darf, sondern wo ich sozusagen meine persönlichen Idiosynkrasien und Perversionen niederlassen oder niederlegen darf. Wenn das quasi zu einer fremden Instanz kommt, gerade zu einer staatlichen Instanz, entsteht eine Art Feedbackschleife, eine schlechte Feedbackschleife, und es entstehen ganz komische Effekte, und es entsteht vor allen Dingen auch der Effekt, dass im Tagebuch selber über diese Tagebuch-Entwendung geredet wird.
Das ist auch das Paradoxe an dieser ganzen Situation, dass man ihn immer weiter Tagebuch schreiben lässt; man hätte ja sagen können, man verbietet ihm das, es gab durchaus drakonischere Strafmaßnahmen: er hat zum Teil nichts zu essen bekommen, zum Teil wurde ihm medizinische Versorgung verweigert, und all solche Sachen, also man hatte da schon seine Machtmittel. Aber Tagebuch schreiben durfte er immer weiter.
Und das ist ein bisschen das Paradoxe, dass er im Tagebuch darüber schreibt, wie ihm die Tagebücher weggenommen werden, und irgendwann ist das dann auch kein Tagebuch mehr, sondern er schreibt einerseits für sich, einerseits für die Nachwelt, also im Prinzip für uns, und einerseits schreibt er eben auch an seine Bewacher, beschimpft die, und so weiter, und gibt alle möglichen Dinge preis (oder eben auch nicht preis), und diese Feedbackschleife, diese schlechte Feedbackschleife, ein bisschen zu veranschaulichen in ihrer Eskalation ist also der Sinn für diesen historischen Exkurs, mal zurückzugehen in die Analogwelt vor dem Krieg.
10:07 Die ersten Tagebücher werden konfisziert
Ja, das Ganze beginnt eigentlich am 19. April 1920, da ist er im Ansbacher Gefängnis, und schreibt da in sein Tagebuch, und da zitiere ich jetzt dann einfach immer – er schreibt eigentlich sehr klar, sehr gut lesbar heute. Ich empfehle auch diese Tagebücher insgesamt, man erfährt unglaublich viel über die Zeit, wenn man die liest, sie sind bei dtv ganz normal erschienen. Also er schreibt: “Ich bin aus merkwürdigen Gründen gezwungen, vor der Zeit ein neues Tagebuch anzufangen, Müller-Meiningen [das ist der damalige bayrische Justizminister] hat einen Gewaltakt begangen, der alles bisher geleistete in den Schatten stellt.”
Dann beschreibt er, wie seine Zelle leer geräumt wurde.
“Dann wurde ich gegenüber in eine andere, leere Zelle gesperrt, wohin ich nicht mal Papier und Bleistift mitnehmen konnte. Trotzdem ist dort ein Gedicht entstanden. Inzwischen wurde meine Zelle völlig ausgeräumt, und als ich um halb drei endlich wieder herüberdurfte, hatte ich lange zu tun, um die Sachen wieder einigermaßen an Ort und Stelle zu bringen. Von meinen durchsuchten Sachen vermisse ich bis jetzt so ziemlich alles, was für mich persönlich, beruflich, künstlerisch und historisch Wert hat.”
Und als erstes nennt er eben seine sämtlichen Tagebücher von Oktober 1918 ab. Ja, medial betrachtet natürlich paradox, er schreibt also im neuen Tagebuch, dass man ihm das alte Tagebuch weggenommen hat. Weiter geht dann eben dieser Schlagabtausch.
11:22 Ehrlichkeit, Authentizität und Öffentlichkeit
Dafür ist es vielleicht ganz interessant, sich kurz zu vergegenwärtigen, mit welchem Impetus Mühsam eigentlich seine Tagebücher führt. Es gibt sehr unterschiedliche Arten, Tagebuch zu führen. Es kann ganz persönlich sein, es kann halböffentlich sein, literarisch sein, aber es gibt am Anfang von Mühsams Tagebuch-Zeit, noch vor seiner Inhaftierung, eine Art Manifest, wie er sein Tagebuch anfangen will. Und das ist vielleicht zum Selbstverständnis ganz interessant, auch als Folie für das, was sich dann in der Haft mit dem Tagebuch verändert und passiert.
Also er schreibt, schon 1910: “Sollen diese Tagebuchaufzeichnungen für mich selbst, als Erinnerungsstützen, Wert haben, so müssen sie ehrlich sein, die notierten Ereignisse niemals fälschen, und für mein gegenwärtiges Erleben wichtige Vorgänge nicht verschweigen.”
Und das ist eigentlich auch eine Art Gesamtdefinition von Intimität, beziehungsweise von intimer Rede. Also das muss sozusagen gewährleistet sein, wenn man eben ein Tagebuch im klassischen Sinne führen will.
“Die Rücksicht darauf, dass die Notizen einmal publiziert werden könnten, darf nichts entscheiden. Es steht schon manches in diesem Heft, was die Veröffentlichung in den nächsten Jahrzehnten sowieso ausschließt, so werde ich mich auch nicht abschrecken lassen, Sachen einzutragen, die die Drucklegung zu meinen Lebzeiten, und vielleicht lange darüber hinaus, verbieten. Ob sich in 80 oder 100 Jahren [also ungefähr jetzt] mal jemand findet, der meine Tagebücher der öffentlichen Mitteilung für Wert halten wird, kann ich nicht wissen. Niemand, der aus dem Tagesgeschehen und Erleben heraus Notizen schreibt, kann deren Kulturdauer ermessen.”
Und dann schreibt er eben kurz, dass das auch literarisch eine schwierige Gattung wäre. Aber er sagt:
“Also, ich will ehrlich sein, soweit ich es vor mir selbst nur kann, und ich will auch nicht vor der Entblößung meiner Geschlechtlichkeit halt machen”, und danach folgen auch gleich die Schilderungen so einer Stubenmädchen-Affäre, die für ihn gar nicht besonders ruhmreich war. Das ist sozusagen das Wahrzeichen, dass er dem Tagebuch wirklich alles anvertraut. Er hat diesen Ehrlichkeits- und Vollständigkeitsanspruch, den man im Prinzip ja auch braucht.
Das ist allerdings ein bisschen eingeschränkt bei Mühsam, und zwar, weil Mühsam sich – und auch damit ist er in gewisser Hinsicht eine Art Prototyp für heute, beziehungsweise für bestimmte Leute heute – er versteht sich natürlich als öffentliche Person. Er ist ein öffentlicher Anarchist, er sieht auch aus wie ein Anarchist.
Jetzt hab ich leider keine Bilder, sondern nur diesen Bluescreen, ein bisschen wie bei Derek Jarman in diesem Film “Blue”, wo man nur eine blaue Leinwand sieht und den Soundtrack hört. Ich hoffe, das hat ein bisschen einen ähnlichen Charakter.
Aber im Prinzip ist Mühsam sozusagen eine öffentliche Figur, mit so einem Anarchistenbart und so einem Zwicker, und so weiter, mit absichtlich schäbiger Kleidung und so. Er sagt also, er trägt das Innere sowieso sehr stark nach außen, er ist eine öffentliche Figur, und in dieser Hinsicht fast auch ein Vorgänger der ‘Kommune 1’. Er sagt, das Öffentliche ist privat, wir leben hier, oder umgekehrt: das Private ist öffentlich. Wir leben hier exemplarisch, die Welt soll sehen, wie wir auch im Intimen interagieren, weil wir quasi paradigmatische Leute sind.
Insofern war Mühsam, was Intimsphäre betrifft, vergleichsweise schmerzfrei, allerdings dann auch nicht so ganz schmerzfrei wie er das vielleicht immer dachte. Aber er ist damit auch eine Art Prototyp, nur muss man sich klar machen, dass das vielleicht nicht der allgemeine Prototyp für jede Person sein kann. Das ist natürlich eine bewusste Entscheidung, zu sagen: ich trage mein Privates nach außen, ich stelle alle meine persönlichen Hobbies und Schweinereien oder geheimen Gelüste und so weiter auf meiner Homepage aus. Das ist dann eine freie Entscheidung, oder eben die Entscheidung, das nicht zu machen. Das zum allgemeinen Paradigma zu machen, sodass das jeder machen muss – seine Gebrechen, seine Krankheiten, seine Dinge, die er vielleicht auch gerne vor der Öffentlichkeit verbirgt, offenbaren muss – ist natürlich ein vollkommen anderer Schritt.
15:06 Überwachungs-Pingpong
Gut, also Mühsam führt dieses Tagebuch, aber – und das ist vielleicht das Entscheidende – er führt das Tagebuch schon so halböffentlich, manchmal nimmt er dann auch Teile in Veröffentlichungen auf. Wenn ihm etwas besonders gut gelingt – bestimmte Passagen, Formulierungen – er sieht das auch als eine Art Steinbruch, und so weiter.
Das Entscheidende ist, dass er immer davon ausgeht, und das ist eigentlich eine frühe Formulierung von informationeller Selbstbestimmung, dass er selber derjenige ist, der entscheidet, wie öffentlich oder wie privat welcher Teil dieses Tagebuches sein kann. Und das ist genau, was ihm im Gefängnis dann… diese Autonomie ist genau das, was ihm im Gefängnis abhandenkommt.
Das geht dann weiter. Es ist also diese Konfiszierung gewesen, im April 1920. Am 3. Mai bekommt er dann Besuch vom Staatsanwalt, und schreibt dann in sein Tagebuch: “Dann kam etwas Heikles. Er [der Staatsanwalt] hat die Mitteilung bekommen, in meinem Tagebuch stehe die Absicht vermerkt, meine Broschüre…” – er hatte da so eine Einigungsbroschüre, eine politische, anarchistische Broschüre geschrieben – “…diese Broschüre herausschmuggeln zu wollen. Ich habe ihm erklärt, dass mein Tagebuch Stimmungen enthalte, auf die ich nicht festgelegt zu werden wünsche. Jedenfalls werde ich in Zukunft meine Einzeichnungen so abfassen müssen, dass sie nicht nur gegen meine Genossen sondern auch gegen mich selbst unverwendbar sind.”
Und das steht eben im Tagebuch selber. Natürlich ist das eine Notlüge gegenüber dem Staatsanwalt, es ist natürlich keine Stimmung, ‘lyrische Stimmung’, in meinem Tagebuch zu sagen: “Ich will meine Broschüre rausschmuggeln.”, sondern da hat man mal einen wirklichen Fahndungserfolg auf Seiten der Überwacher. Die haben das also durchschnüffelt und haben quasi etwas ausgewertet, und Mühsam wird jetzt zum ersten Mal mit dieser Feedbackschleife konfrontiert. Man weiß aus einer intimen Gattung etwas, was man eigentlich nicht wissen soll. Und er soll damit irgendwie umgehen. Man kann damit aber nicht umgehen, er kann im Prinzip nur eine Notlüge machen. Und er trifft eben die Maßregel: “Ab jetzt nichts Verdächtiges mehr schreiben.”
Das Absurde ist allerdings, dass er das eben wieder ins Tagebuch reinschreibt, das muss man sich klar machen. Und ich glaube auch, dieses Pingpong-Spiel wird’s auch, wenn die staatliche Überwachung jetzt wirklich ins Rollen kommt, und es nicht mehr gelingt, das zu verhindern, dann werden diese ganzen Pingpong-Effekte auch auftreten. Das heißt, wenn man in einer Gattung schreibt, wo man weiß, dass sie überwacht wird, ist es natürlich Unsinn, selbst in diese Gattung reinzuschreiben: “Ich weiß, dass diese Gattung überwacht wird, und werde mich jetzt zügeln und alle geheimen, bösen Sachen, die ich auch noch denke, werde ich hier nicht schreiben.”
17:38 Psychologie der Überwachung
Das ist natürlich etwas, was einen vielleicht selber entlastet, sowas dann zu schreiben. Für den Überwachungseffekt hat es aber natürlich gar keinen Nutzen. Denn wenn man sich entscheidet, das zu machen, dann muss man es eben einfach nur tun, nicht sagen. Im Prinzip hätte Mühsam sofort nach dieser ersten Tagebuchentwendung das Tagebuch einfach aufgeben müssen, sagen müssen: “Ok, unter den Umständen kann man kein Tagebuch schreiben.” Das hat er aber nicht gemacht. Man hat das auch nicht von ihm verlangt. Und natürlich ist es auch ein inneres Bedürfnis, wenn man im Knast sitzt, einfach zu schreiben, worum es einem geht, und was einen gerade betrifft. Man hat ja auch sonst fast nichts. Der Lebensradius ist ja extrem beschränkt. Das Tagebuch ist in gewisser Hinsicht die Rettung.
Das wäre so – ich weiß gar nicht, das wäre vielleicht auch mal ein interessanter Vortrag – wie es im modernen Strafvollzug ist, wieviel Laptop- und Internetzugang dort gewährleistet ist. Vielleicht ist es für manche Leute dann gar nicht mehr so schlimm, eingesperrt zu sein, wenn sie ihre Gadgets alle haben und ohne Gadgets ist es aber wie ein Todesurteil, schlimmer als der Tod. Das weiß man nicht.
Man hat ihm jedenfalls das Tagebuch gelassen, aber eben immer mit der Voraussicht, es könnte vielleicht auch wieder konfisziert werden. Das heißt, man hat diese komische Asymmetrie: man schreibt etwas Vertrauliches, und das fliegt quasi als Bumerang in die Außenwelt und kommt dann in seinen Wirkungen wieder zurück.
Was das psychologisch für Konsequenzen hat, ist eben gut. Er nimmt sich vor, er will nichts Gefährliches mehr in das Tagebuch reinschreiben. Das schafft er dann über bestimmte Strecken, manchmal aber auch nicht. Manchmal geht’s mit ihm durch, und diese Programmatik ist sozusagen zwar verändert worden, aber der Vorsatz, das zu machen, und der Vollzug fällt eben auseinander. Und ich glaube das ist auch etwas sehr aktuelles, dass man sich zwar klar machen kann: “Es könnte sein, dass ich überwacht werde, und es könnte sein, dass jetzt gerade diese Mail, oder gerade diese Sache, abgefangen wird” aber in der Praxis denkt man halt nicht die ganze Zeit daran.
Das psychologische Pendant dazu ist so eine zermürbende Kippstellung, man hat das ungute Bewusstsein, dass alles, was man gerade schreibt oder macht beizeiten oder irgendwann gegen einen verwendet werden könnte, aber man hat genauso den Drang, das graduell möglichst gut zu verdrängen und zu vergessen, dass man das weiß, im einzelnen Akt. Und genauso ist das bei Mühsam, wenn man das nachliest, nachzuvollziehen. Er reißt sich immer wieder am Riemen und sagt: “Ah, ich darf jetzt nichts mehr schreiben, was irgendwie wichtig ist” – fünf Seiten später rutscht ihm doch irgendwas raus, und so weiter.
20:05 Schreiben und sprechen für eine mögliche Zukunft
Richtig schlimm wird das Ganze ja nur durch den realen Vollzug, der jetzt eben weitergeht, weil man ihm auch dieses Heft, in dem diese ganzen Tagebuchentwendungs-Dinge drinstehen, wieder wegnimmt, und zwar ein Jahr später, am 26. Mai 1921. Da geht dieser einseitige Boxkampf in die zweite Runde.
In Niederschönfeld, im Zuchthaus oder in der Festungshaft Niederschönfeld, in der Einzelhaft, schreibt er an diesem Tag: “Ich muss wieder einmal vor der Zeit ein neues Heft anfangen. Und diesmal, da ich Zenzel nicht verständigen konnte, für eines zu sorgen, eines, das nicht zu den anderen passt, obwohl es mich 15 Mark gekostet hat” – das stört ihn, er hatte lauter so gleichartige Tagebücher, und das nervt ihn jetzt, dass da jetzt ein anderes kommt, aber er kann auch nichts machen, er muss quasi schreiben.
“Ob und wann ich…” – und jetzt, ein entscheidender Punkt: “Ob und wann ich oder ein späterer Leser den Inhalt dieses Buches mit den früheren Aufzeichnungen zusammenflicken kann, lässt sich kaum entscheiden. Nachdem ich gestern in Einzelhaft gekommen bin…”
Also, das ist der wichtige Punkt: er denkt hier gleichzeitig auch schon an die Nachwelt. Und das ist vielleicht auch etwas ganz Interessantes, oder ein Zug, der auch bei heutigen Medienäußerungen schon eine Rolle spielt. Man adressiert vielleicht ein Tagebuch an sich selber, man adressiert öffentlich an andere, aber man adressiert gleichzeitig auch an eine Art Nachwelt. Auch das hier wird ja jetzt hier aufgezeichnet. Grotesk, oder eigentlich bizarr, dass eigentlich ein Vortrag über Überwachung… aber es ist ja eine öffentliche – ich hab das ja selber gewählt, es ist eine öffentliche Präsentation, insofern völlig ok.
Aber man muss sich eben immer klar machen, dass man vielleicht in eine mögliche Zukunft spricht. Wenn die Überwachungsgesetzgebung so weitergeht wie in den letzten 20 Jahren auch in den nächsten 20 Jahren so weitergeht, dann wird es wahrscheinlich mal was Bizarres oder Absurdes haben, sich dann diesen Vortrag hier anzuhören. Und dieses Bewusstsein kann man eben auch bei dem, was man heutzutage hat, schon haben: dass man sagt, man spricht auch an Zukünftige, und das tut er eben hier auch. Er hat Sorge darüber: wenn ich jetzt schon hier nichts machen kann mit meinem Tagebuch, und keine Verfügung darüber habe, werde ich das irgendwie an die Nachwelt retten können? Und er schreibt auch im Tagebuch eben immer wieder – er hat sozusagen immer wieder die Sorge, ob quasi Spätere mitbekommen können, was hier passiert ist.
Und ich glaube, auch das ist ein wichtiger Punkt, dass man also eigentlich an die Nachwelt funkt, was eigentlich los ist, und das Ganze in einem größeren historischen Zusammenhang auch sieht, nicht nur im Zusammenhang von wenigen Monaten oder jeweils bis zum neuesten Update.
“Nachdem ich gestern in Einzelhaft gekommen bin, wurde mir heute Nachmittag auf Anordnung der Verwaltung alles Papier herausgeholt, darunter das gerade im Gebrauch befindliche Tagebuch, und das gesamte Kladdenmanuskript zu meinem Roman. Also eine Wiederholung des ganzen Vorgangs vom 19. April 1920, nur jetzt insofern schlimmer, als kein Grund da ist, oder auch nur vorgetäuscht wird, irgendeine Untersuchung in einem Strafverfahren dadurch zu äußern.”
Das war beim letzten Mal der Vorwand, man hat gesagt, man muss… um die Beweislage zu klären, muss man ihm das Tagebuch wegnehmen. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Er sitzt ja die ganze Zeit im Gefängnis, was soll er neu gemacht haben?
“Außerdem kann ich mich an niemanden hilfesuchend wenden, und stehe einfach dem von keiner Rechtsformulierung zurückgehaltenen Ausbruch eines wahrscheinlich von Antisemitismus bedienten, brutalen politischen Hasses gegenüber, der mich zum Opfer will. Ich rechne damit, dass der Inhalt der Tagebücher vom Staatsanwalt Kraus zum Vorwand gemacht werden wird, neue Arten seiner ‘fühlbaren Belehrung’ zu entwickeln, aber ich bin gefasst. Mehr als umbringen können mich auch diese Leute nicht.”
Dass Mühsam das genaue Datum der vorhergehenden Razzia weiß, zeigt, dass der Vorfall für ihn gravierend war, er hat sich ihm sozusagen ins Gedächtnis eingebrannt. Er ist vielleicht nicht mehr ganz so sehr überrumpelt, weil es eben eine Wiederholung ist, aber der Schock ist, glaube ich, schon groß. Und ich glaube auch das ist etwas sehr Aktuelles, dass wenn man einmal überwacht wurde, oder so eine Erfahrung gemacht hat, dass plötzlich jemand im Besitz von Daten ist, die man ihm nicht geben wollte, schleift sich trotzdem – sobald das dann mal zwei, drei Wochen nicht passiert – schleift sich so eine Hoffnung ein, das würde nicht wieder passieren, und diese Hoffnung wird hier jetzt natürlich unterbrochen. Er weiß ab jetzt, alles was er jetzt wirklich schreiben wird, wird irgendwann konfisziert werden, höchstwahrscheinlich, und er muss sozusagen ständig damit rechnen. Das war keine einmalige Sache.
Andere Aspekte sind auch sehr wichtig. Der Eindruck macht sich bei ihm nämlich breit, dass diese Konfiszierung jetzt nicht nur unter einer bestimmten Begründung – Beweisaufnahme, oder irgendwelchen konkreten Verdachtsmomenten – passiert, sondern einfach so, weil man’s halt kann. Und das ist natürlich eigentlich auch eine frühe Formulierung von präventiver Datenspeicherung. Man kann es halt machen, es gibt die Daten halt, man kann sie speichern, man kann ja immer noch kucken, was man nachher damit machen kann. Es muss kein konkreter Verdacht da sein, man ist verdächtig, weil man existiert. Das ist im Prinzip die Lage, in der er da eben ist, als Festungsgefangener. Damit korrespondiert, dass er auch keine Appellationsinstanz hat, um dagegen vorzugehen. Es gibt niemanden, wo er sich jetzt sozusagen beschweren kann, weder auf der Symbolebene noch faktisch. Er ist dieser Sache mehr oder weniger hundertprozentig ausgeliefert.
25:11 Die Unmöglichkeit der Gegenwehr
Von einer Reaktion im Sinne realer Gegenwehr kann man da kaum mehr reden. Es bleibt eigentlich nur mehr die Wahl unter verschiedenen Psychotechniken, wie man mit so einer Situation zurechtkommt. Die Position, die Mühsam einnimmt – er sagt ja “mehr als umbringen können mich auch diese Leute nicht” – ist so eine Art moralische Weltentsagung. Er sagt: “Naja, in dieser Welt könnt ihr mich überwachen, aber in Wirklichkeit könnt ihr meine moralische Person damit nicht zerstören, denn die ist sozusagen nicht auszumerzen auf diese Art.” Ob das sehr klug ist, sowas zu sagen oder zu schreiben in einem Medium, das dann auch wieder überwacht werden kann, ist natürlich eine andere Frage. Er weist die Peiniger damit natürlich in die Schranken ihrer Macht, er sagt: “physisch könnt ihr mich vernichten, aber als moralische Person treffen könnt ihr mich eigentlich nicht, weil ihr bohrt euch eigentlich nur selber in den Dreck”.
Ob diese Wahrheit auszusprechen klug ist, das hängt davon ab, wie das Gegenüber eben gebaut ist. Wenn das Gegenüber eine Art Sadist ist, oder so, dann kann das vielleicht dazu führen, dass es ihm dann noch besonders Spaß macht, jemanden weiter zu überwachen, weiter zu quälen. Wenn er kein Sadist ist, dann kann es vielleicht zu so einer Art Beißhemmung führen, sozusagen “Naja, der liegt eh schon am Boden, und so weiter, was sollen wir da machen?”. Oder, der Apell, was Mühsam natürlich immer erhofft, ist, dass der Überwacher – und das ist ja eigentlich ein Rätsel, warum die meisten Überwacher nie auf diesen Gedanken kommen – dass der Überwacher eben den Gedanken fasst: “Mein Gott, was mache ich hier eigentlich für einen Dreck? Was für eine Drecksau bin ich? Ist das nicht unter meiner Würde, ist das nicht entsetzlich?”
Diese psychologische Schiene, die Selbstachtung, die moralische Selbstachtung des Überwachers, des Datenstehlers (oder Datenentfremders) irgendwie anzusprechen. Das hat in Mühsams Fall eben leider nicht funktioniert. Er wurde natürlich weiter überwacht. Man weiß nicht genau, ob der entsprechende Staatsanwalt jetzt genau diese Stelle gelesen hat, aber es ist auf jeden Fall nicht so, dass Mühsam danach dann leichtere Haftbedingungen hatte
27:22 Nichts zu verbergen?
Er weiß jetzt allerdings schon sehr genau, dass die Tagebücher ausgewertet werden, und schreibt das auch. Er schreibt: “Nun werden wieder neugierige Reaktionäre in meinen Tagebüchern nach Verschwörungsspuren suchen, und so wenig Glück damit haben, wie in den alten. So ehrlich ich meine Tagebuchaufzeichnungen mache – schließlich kann mich ja niemand verpflichten, in Selbstgesprächen in meiner Kritik sonderlich zurückhaltend zu sein – so würde ich doch, selbst wenn es etwas zu sagen gäbe, was besser diskret bliebe, niemals der historischen Pedanterie wegen andere Leute Gefahren aussetzen.”
Und da kann man sagen, das klingt natürlich sehr ehrenhaft, aber unter dieser Situation in das Tagebuch geschrieben ist es natürlich – und das finde ich halt auch hoch interessant heute zum Studieren, ohne damit Mühsams Andenken herabzusetzen – aber objektiv ist es natürlich totaler Schwachsinn. Er sagt quasi dem Überwacher: “Ja, ich habe sowieso nichts zu verbergen, aber selbst wenn ich etwas zu verbergen hätte, würde ich es dir sowieso nicht sagen.” Da müsste der Überwacher schon ein totaler Trottel sein, wenn er das als beruhigende Nachricht entgegennehmen würde, sondern er wird natürlich eher denken: “Hält er mich für blöd, oder versucht er, besonders schlau zu sein, und so weiter?”
Was man auf dem Niveau eben sieht, ist dass diese Feedbackschleife – dass man in einer intimen Gattung eigentlich an jemand anderen redet, und damit eigentlich eine dauernde Art perverser Dateninzest die ganze Zeit läuft – das führt eben dazu, dass die Kommunikation immer merkwürdiger, paradoxer und vergifteter wird, eigentlich. Und das ist natürlich eine Art Schutzbehauptung von ihm, die aber natürlich keine realen Folgen hat.
Ein bisschen erinnert das an diese taktische Argumentation, die man heute auch manchmal komischerweise unter Datenschützern… eben dieses Argument, man hat ja eh nichts zu verbergen. Und wenn man was hätte, dann würde man es eben besser verbergen. Das erinnert so ein bisschen an diesen Witz, der bei Freud in dem Witzbuch überliefert ist, wo jemand einen Kessel ausgeliehen hat, und den dann wieder zurückgegeben hat mit einem Loch darin. Und dann wird das vor dem Richter verhandelt, und er sagt: “Naja, das stimmt überhaupt nicht, und zwar aus drei Gründen: erstens habe ich den Kessel überhaupt nie ausgeliehen, zweitens war das Loch schon drin, als ich den Kessel bekommen habe, und drittens habe ich den Kessel ohne Loch wieder zurückgegeben.” Also es ist quasi eine merkwürdige Geschichte der Argumentation, die sich logisch gegenseitig ausschließt, und man sieht eben, dass Mühsam ja eigentlich keine Chance hat, mit dieser Situation zurechtzukommen.
Und er fasst dann aber kurze Zeit später zusammen: “Über die bei der Durchsuchung bei mir konfiszierten Sachen habe ich noch keinen Bescheid, und so hängt – womöglich wegen meiner Tagebuchaufzeichnungen…”, und das ist, finde ich, eigentlich eine schöne Formulierung für den aktuellen Zustand, “und so hängt das Damoklesschwert unbekannter, neuer Peinigungen ständig über mir”, schreibt er dann. Also er weiß nicht, was aus dieser Datenentwendung rauskommen kann, es ist vollkommen unbestimmt. Und da ballt sich eigentlich dieser diffuse Druck, unter dem er steht.
Dann - eine weitere Eskalation dieser Feedbackschleife – erfährt er beim Besuch seiner Frau Zenzel [?]. Da erfuhr er nebenbei durch den Überwachenden, dass “mein Romanmanuskript”, er hat also einen Roman geschrieben, “nachdem es schon freigegeben war”, das wurde natürlich zensuriert, aber es war dann freigegeben worden, “einer nochmaligen Prüfung unterliegt, weil ich in meinen Tagebüchern so tolle Dinge stehen habe.”
Also die neuen Aspekte sind hier diese geringschätzige Beiläufigkeit und Zufälligkeit, mit der man die entscheidende Information überhaupt erfährt, vor allen Dingen aber dann aber die Verquickung von privaten und öffentlichen Kommunikationssphären durch die totalitäre Obrigkeit. Jederzeit kann sie das unbefugt durchleuchtete Private auf mehr oder weniger undurchschaubare, aber immer unangreifbare Art gegen die öffentliche Person in Stellung bringen. Das ist halt das Neue jetzt, hier. Hier etwa als zusätzliche Zensurschleife, die eingeführt wird.
Generell, oder wenn man das generalisiert, kann man natürlich sagen: je totalitärer und damit paranoider die Machtinstanz ist, desto weniger getrennte Lebensbereiche oder Lebensäußerungssegmente wird sie ihren Untertanen (oder Kunden und so weiter) zugestehen. Das Menschenbild reduziert den Einzelnen eigentlich auf die Frage, inwieweit er ihre Autorität, Kontrolle und Macht beziehungsweise ihren Profit in Frage stellen oder bedrohen könnte, und zwar, wenn nicht als direkter Kontrahent, dann in irgendeiner anderen Eigenschaft: als Spaßvogel, oder Mutter, oder weil er arm ist. Und wenn er das nicht real kann, dann eventuell symbolisch, indem er darüber Witze macht. Und wenn er es schon nicht offen macht, dann heimlich, im privaten Kreis, oder im Tagebuch, oder in Gedanken, oder unbewusst
Und diese paranoide Dynamik dieses obrigkeitlichen Kontrollzwangs kennt eigentlich von sich aus keine Grenze. Das ist auch, was man glaube ich in der Kontrolldynamik beobachten kann, es gibt eigentlich nie eine Grenze, wo es irgendwie genug wäre, sondern immer, das was erreicht wird, wird dann sozusagen noch gesteigert. Zu der Zeit hätte man genauso gut sagen können, ein Thomas Mann darf seine Romane nicht veröffentlichen, er hatte viel ‘schlimmere’ Sachen in seinen Tagebüchern. Er war halt homosexuell, hatte das in seinem Tagebuch stehen gehabt. Wenn diese gleiche Dynamik da auch gegolten hätte, hätte man auch sagen können: “Naja, der Roman ‘Der Zauberberg’ darf leider nicht erscheinen, weil Sie in Ihrem Tagebuch so tolle Sachen stehen haben.” Das ist Thomas Mann zum Glück noch nicht passiert, ich glaube, heute könnte es einem – oder in absehbarer Zeit könnte es einem vielleicht passieren.
32:54 Internalisierte Überwachung
Jetzt noch ein… Jetzt kommen noch ein, zwei, drei wichtige Aspekte dieser Feedbackschleife, bevor ich dann auch zum Schluss, oder zum Resümee, komme.
Am 25. Juli 1921 gibt es dann eine weitere Wendung. Er sagt: “Heute habe ich den Staatsanwalt Kraus in Person kennengelernt. Er ließ mich am Vormittag hinunterrufen, vor ihm lagen Corpora Delicti, die bei der Durchsuchung am 26. Mai konfisziert waren. Zuerst das Tagebuch. Beim Blättern darin wurden dicke, rote Striche unter ganzen Zeilen sichtbar.”
Das ist jetzt eine doppelt zweischneidige Situation: zunächst mal die persönliche, erzwungene Begegnung mit dem Überwacher. Das ist eine Zumutung, auf der einen Seite, auf der anderen Seite natürlich auch eine Chance. Man hat zumindest eine Art Gegenüber, man weiß, wer das ist, der einen überwacht hat, und man kann den entweder beschimpfen, oder schweigen, oder argumentieren. Man kann zumindest sich irgendwie verhalten. Das kann man vielleicht heute, oder in der Zukunft, schwer, weil man einfach nicht weiß, wer dieses Gegenüber in Wirklichkeit überhaupt ist. Oder das ist irgendein Rechner, der irgendwelche Regelmäßigkeiten auswertet, da kann man sich dann noch schwieriger verteidigen oder man kann ihn beschimpfen, aber es interessiert ihn auch nicht.
Und das andere, der andere Punkt, ist natürlich, dass er sieht, dass das Tagebuch eben entstellt wurde, dass also da herumgeschmiert wurde, unterstrichen wurde, das heißt, dass die ganze Sache verändert wurde. Und das ist auch eine sehr ambivalente Sache: man kann einerseits sagen, ja, das ist natürlich ein Verstoß, das ist wie eine Art Kunstwerk, das man irgendwie… das der Überwacher beschmiert, besudelt, kaputt macht, sich selber da irgendwie hineingrätscht, auf der einen Seite.
Auf der anderen Seite kann man natürlich auch von heutiger Sicht sagen, immerhin hat Mühsam gesehen, was unterstrichen war. Und er konnte immerhin sehen, dass etwas gemacht wurde.
Das ist heute wahrscheinlich relativ leicht, eben diese Auswertungen zu machen, ohne dass sich an den konkreten Datenbeständen so viel ändert, wenn man die nachher ankuckt, dass man irgendwie weiß – wonach wurde überhaupt gesucht, was wurde gemacht. Also eine sehr ambivalente Sache, aber hier ist eben so ein früher Fall, dass eben wirklich auch in den Informationsträger, oder Datenträger in dem Fall, in dieses Printbuch, eingegriffen wurde und herumgemacht wurde. Es hätten auch Sachen durchgestrichen werden können, oder hinzugefügt werden können. Das war allerdings damals, in der Analogsteinzeit, relativ schwierig, das so zu machen, dass es wirklich wie eine vernünftige Fälschung dann aussieht.
Interessant auch die psychologische… das psychologische Gegenüber dann mit diesem Überwacher. Mühsam schreibt: “Ich hatte mir schon vor Eintritt vorgenommen, möglichst wenig zu sprechen, und nicht für nichts und wieder nichts in Einzelhaft zu müssen.” Er hatte – er ist dann oft ausgeflippt mit den Wachen, und so weiter, und hat dann immer Einzelhaft bekommen. Das wollte er nicht, also er wollte ruhig bleiben. “… und verlor auch keinen Augenblick die Ruhe, und die Überlegung, dass vor mir ein Mann sitzt, der über große physische Machtmittel verfügt, und oft gezeigt hat, dass er sie recht unbedenklich anzuwenden weiß. Ferner wollte ich mehr beobachten als mich der Beobachtung aussetzen.”
Das ist auch ganz interessant, allerdings auch ein bisschen tragikomisch. Also, klar, er kann diesen Überwacher beobachten, im Prinzip ist aber das Machtgefälle, und die Asymmetrie, so groß, dass er eigentlich mit dieser Beobachtung – tja, er kann sich selber psychologische Ableitungen daraus machen, aber er kann eben nicht die Tagebücher von diesem Staatsanwalt lesen. Das wäre ja quasi die Datensymmetrie, Das wäre ja auch eine Art Vorschlag, dass man eine Art kategorischen Datenimperativ einführt, und sagt: “Also wenn du meine Tagebücher lesen willst, dann ist das Mindeste, was du machen musst, deine Tagebücher mir zum Lesen zu geben.” Da könnte man ja darüber diskutieren, aber selbst das ist ja überhaupt nicht der Fall. Diese Asymmetrie ist sozusagen immer mit gesetzt.
Und, ja, er versucht sich quasi wie so eine Art ins Irrenhaus geratener ‘Normaler’ zu bewegen, zu sagen: bloß beobachten, bloß nichts Falsches tun. Und das ist, glaube ich, jetzt quasi der Punkt, wo diese äußere Überwachung eben in die innere Überwachung eigentlich schon umschlägt. Das ist ein ganz frühes Zeugnis dafür, wo also diese Art – möglichst wenig, weil man weiß, dass Sanktionen zu erwarten sind – möglichst wenig falsch zu machen. Dieser Bewusstseinszustand wird, glaube ich, an der Stelle hier sehr deutlich.
Dann ist auch noch eine andere, interessante Passage: “Das Tagebuch wurde zuerst vorgenommen”, jetzt in diesem Gespräch, “wobei mir die bemerkenswerte Frage vorgelegt wurde, ob ich im Kopf hätte, was alles drinstehe. Auf meinen Einwand, dass derartige Aufzeichnungen völlig private Selbstgespräche seien, und dass niemand je einen Einblick darin erhalte, ging man nicht ein. Es seien schwere Beleidigungen gegen Dr. Wollmann [?], einen der Staatsanwälte, darin, und das Heft gehe daher ‘zum Akt’.” Meines Wissens müssen es zwei Hefte sein. “Dazu eine Predigt: es sei gegen das Führen von Tagebüchern gar nichts einzuwenden, aber es gäbe genügend Stoff dazu, und ich habe mir stets bewusst zu halten, dass ich Festungsgefangener sei, andernfalls, Pünktchen, Pünktchen.”
Das ist eben das Interessante. Also er muss das Tagebuch quasi unter Aufsicht führen, unter den Auflagen, die da eben sind.
Und interessant finde ich eben auch diese Formulierung “das Heft geht zum Akt”. Denn damit wird eigentlich jede Lebensäußerung – beim Tagebuch ist es eben extrem, als intimster Gattung. Wenn das Tagebuch zum Akt geht, dann geht eigentlich jede Lebensäußerung zum Akt, das heißt, alles was man im Leben macht, jede Lebensäußerung, ist eigentlich Teil einer möglichen Vernehmung, ist sozusagen Teil des Aktes, der über einen angelegt wird. Man wird eigentlich sein ganzes Leben – egal, was man macht, wird man vernommen, sogar im Tagebuch. Und das ist eben hier auch sehr früh, und sehr eindeutig, formuliert.
Dann ist auch noch diese Frage interessant, ob er die Notate vollständig im Kopf hätte. Das registriert er natürlich besonders achtsam, und das ist auch in Bezug auf sein späteres Leben gar nicht so absurd, denn das ist ja weder – es erwähnt nicht so ein psychologisches Interesse des Überwachers, oder mnemotechnisches Interesse, also “Können Sie das alles auswendig, diese 10.000 Seiten?”, was ja auch absurd wäre, sondern es ist eigentlich schon die Überlegung eher schon dahinter, ob es sich lohnen würde, quasi die Tagebücher zu vernichten und Mühsam nicht. Oder umgekehrt, ob man Mühsam umbringen könnte, und die Tagebücher bestehen ließe, also ob es da sozusagen eine Art Sicherungsspeicher im Gehirn gibt. Ich glaube, auch diese Frage wird aktuell werden.
39:08 Beweismittel und Rechtfertigungsversuche
Und dann kommt also die letzte Eskalationsstufe. Am 25. Dezember 1921 schreibt er ins Tagebuch: “Eben beginnt die Presse mit der Veröffentlichung von Auszügen aus der Regierungsdenkschrift gegen uns”, also gegen die Inhaftierten, “und das gleiche Konglomerat von Verleumdungen und Fälschungen scheint das zu sein, wie es von dieser Seite zu erwarten war. In dieser Denkschrift figuriere ich mit einer ganzen Anzahl von Zitaten, die meine revolutionäre Fürchterlichkeit beweisen sollen. Ich kann nicht nachprüfen, ob ich das alles wirklich geschrieben habe, es scheint aus den mir weggenommenen Tagebüchern zu stammen.”
Also da ist diese Feedbackschleife jetzt wirklich eklatant geworden. Da wurden also im Landtag, im bayrischen Landtag in einer Anklageschrift eben gegen Mühsam und gegen die Inhaftierten Tagebuchaufzeichnungen quasi als öffentliche Dokumente gegen ihn verwendet. Und das ist dann eigentlich der Extremfall so einer Feedbackschleife, dass sozusagen vom Intimsten in das Öffentlichste hinein solche Informationen entfremdet werden. Und da ist dann selbst der gestählte Mühsam nicht mehr ganz souverän, davor hält er sich eigentlich immer wacker, aber hier wird’s dann wirklich traurig, denn er versucht dann zunächst mal, das irgendwie zu rechtfertigen, beziehungsweise er gerät unter den Rechtfertigungsdruck dieser Sache, das merkt man ganz deutlich, und versucht zu argumentieren, und zwar wieder im Tagebuch, wo er wiederum weiß, dass das wieder konfisziert wird.
Er redet eigentlich schon nur mehr mit seinen Überwachern, das ist überhaupt kein Tagebuch mehr in dieser Phase. Und er sagt: “Wenn ich ferner prophezeie, dass die nächste Revolution fürchterliche Folgen haben werde, so zeigt schon das Wort ‘furchtbar’ dass mich das nicht im Mindesten freut.” Und so weiter. Also er versucht sich quasi reinzuwaschen. Er versucht quasi selber, sich Entlastung zu schaffen, und die perverseste Ausbaustufe ist dann eine Eintragung unmittelbar danach, wo er schreibt:
“Im gleichen Augenblick, wo man mich dem erschrockenen Bürger in der blutigen Maske zeigt - denn dass die Tagebücher noch allerlei anderes enthalten, woraus man entnehmen könnte, dass ich am Ende kein schlechteres Herz im Leibe habe als andere Leute, verschweigt man natürlich – zerrt man mich von der anderen Seite als Schwindler vor die Öffentlichkeit.”
Aber was eben an der Stelle entscheidend ist, ist dass er sich hier schon wünscht, und das ist eigentlich wirklich die komplette Selbstaufgabe, - und dabei geht es nicht darum, ihn irgendwie zu richten, also wer weiß, wer da mutiger gewesen wäre – aber er wünscht sich in dieser Phase der Ausgespähtheit, dass eigentlich die ganzen Tagebücher veröffentlicht werden, damit auch seine guten Seiten, seine Liebe zu seiner Frau und alles Mögliche, alles Intime und so weiter, der Öffentlichkeit überantwortet wird, damit der selektive schlechte Eindruck in der Öffentlichkeit widerlegt wird. Und das ist natürlich… das ist sozusagen der perverse… eigentlich auch eine frühe Formulierung dieses Lemming-Standpunktes der Gegenwart: “Ich hab ja nichts zu verbergen, sozusagen. Schaut, ich lege alles offen, ich bin total harmlos, ich bin nicht gefährlich.” Das ist sozusagen auch eine frühe Formulierung, was absolut diametral zu Mühsams gänzlicher… oder zu Mühsams Wesen als anarchistischer Kämpfer und Widerstandsgeist eben war.
42:10 Nachspiel in der Sowjetunion
Ganz kurz nur angedeutet: die schlimmsten realen Folgen, die das Tagebuch, oder diese Tagebuchentwendung hatte, waren dann gar nicht mehr in der Festungshaft, die unmittelbar nach seiner Inhaftierung war, sondern die schlimmsten Folgen – und die konnte er wirklich nicht voraussehen, wenn er die vorausgesehen hätte, hätte er das Tagebuch wahrscheinlich wirklich abgebrochen – waren später. Ich habe ja schon gesagt, er ist 1934 dann leider nicht mehr aus Deutschland rausgekommen, wurde dann eben bestialisch ermordet von den Nazis. Seine Frau Zenzel [?] konnte die Tagebücher aber auch retten, die meisten. Sie haben die nach der Festungshaft wiederbekommen. Sie hatte die, und sie konnte auch noch emigrieren, ist aber vom Regen in die Traufe, nämlich ins stalinistische Russland emigriert, hat die Tagebücher mitgebracht, hat die dem dortigen Gorki-Institut zur Verfügung gestellt, und es ist – das ist nicht so ganz klar und belegt - aber es ist doch ziemlich wahrscheinlich, da muss man noch forschen, dass diese Tagebücher sofort konfisziert wurden. Zenzel ist in den Gulag gekommen, also sie ist sozusagen wirklich zerrieben worden zwischen den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts.
Diese Tagebücher wurden in den Moskauer Prozessen dann zum Teil als Belastungsmaterial benutzt, um zu sehen, wo der böse Anarchist – wer, sozusagen, anarchistische Umtriebe zu seiner Zeit mit Mühsam hatte, wen er kannte. Da kamen natürlich viele Leute vor, und es kann sein, dass Leute deswegen auch liquidiert wurden, wobei das natürlich ein Vorwand war, wie bei vielen anderen Moskauer Prozessen. Aber da hat man dann auch den Fall, wo die Tagebücher dann wirklich real tödliche Folgen haben können, und die Entwendung von intimer Information, von Tagebuchinformation wirklich tödliche Folgen haben kann.
43:47 Conclusio
Und damit möchte ich vielleicht schließen, weil das ist natürlich eine schreckliche Geschichte aus schrecklicher Zeit mit einer ziemlich schrecklichen, auch rechts-lastigen Regierung, damals, die nicht so rechtsstaatlich orientiert war, wie das die heutige Bundesrepublik ist. Auf der anderen Seite, wenn man anfängt damit, die Möglichkeit, Dinge intim zu halten, wenn man also diese absolute Grenze, die auch die Mutter überschreitet, die dann irgendwann aus Lust anfängt, die Tagebücher ihrer Tochter zu lesen: wenn der Staat diese Grenze überschreitet, sind die Folgen im Prinzip schwer absehbar. Und das ist natürlich der Zustand, in dem man jetzt nicht in naher Zukunft ist, sondern im Prinzip jetzt schon ist, und den man eigentlich versuchen müsste in einen Zustand ‘davor’, den es zwischendurch mal gab, wieder zurück zu verwandeln. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
45:04 Fragen aus dem Publikum
Wenn unmittelbar Fragen sind, gerne natürlich. Ich weiß nicht, es ist vielleicht schwer, ohne Mikro, also… einfach melden, oder einfach sagen.
Frage: Hallo? Gibt’s denn vielleicht auch irgendwelche positiven Folgen aus diesen Tagebüchern? Denn ich könnte mir vorstellen – oder aus der Überwachung derselben – wenn man mitbekommt, dass es überwacht wird, dann wird man ja absichtlich versuchen, Dinge zu schreiben, die auch bei Überwachern positive Effekte vielleicht hervorrufen können.
JU: Ja, dann führt man halt kein Tagebuch mehr, sondern sozusagen eine Art Strategiepapier gegen die Überwacher. Das kann man, da war Mühsam halt leider nicht der Typ dazu. Er war einfach zu impulsiv, er hat sich das immer vorgenommen, er wollte immer schlau sein: “Jetzt schreib ich nichts mehr, was mir selber schadet!”, und drei Seiten später sagt er dann: “Ja, ich kann auch nichts dafür, dass ich nicht so ein Trottel bin wie der Staatsanwalt Kraus.”, oder so. Er hat sich die ganze Zeit, er hat sich immer wegfegen lassen von seiner wirklichen Meinung. Das macht ihn einerseits sehr sympathisch, aber als Taktiker war Mühsam eine Katastrophe.
Trotzdem aber, und das ist schön – ich habe das jetzt alles ein bisschen gerafft – aber ich finde es auch gut, damit das nicht völlig schwarz ist: es gibt auch eine Episode, wo diese Tagebuchverleumdung nicht funktioniert hat. Und zwar gab es – ich hab’ ja darauf hingewiesen, er war da inhaftiert mit anderen. Einer der anderen, die zeitweilig mit ihm inhaftiert waren, war der Dramatiker und Dichter Ernst Toller, der auch an dieser Räterepublik-Revolution beteiligt war. Und man hat versucht, indem man ihm – da hatte Mühsam einmal irgendeinen Brassel [?] auf ihn im Tagebuch, so wie man halt im Tagebuch sich über Leute beschwert, ohne dass man will, dass die das dann selber lesen… Und man hat Toller eben diese Stellen zugespielt, um die beiden eben zu entfremden, und das hat nicht funktioniert.
Da hat Toller offenbar die Größe gehabt, dass er gesehen hat, das sind sozusagen Tagebuchaufzeichnungen, das betrifft ihn nicht direkt, und sie sind – das beschreibt er auch sehr anrührend – sie haben sich dann wieder versöhnt und sind… haben sich entschieden, auf solche Sachen nicht zu reagieren.
Also es ist nicht so, dass das Tagebuch aus Gründen von Mühsams taktischer Klugheit irgendwelche positiven Effekte gehabt hat, da hat er sich eigentlich nur Eigentore geschossen, aber es gibt Beispiele, wo dieser Fremdumgang, dieser hämische Umgang mit dem Tagebuch nicht funktioniert hat. Es gibt schon auch Lichtblicke. Also wenn man sich sozusagen nicht darauf einlässt, auf die Beschuldigungen… Also wenn man die Größe hat, wenn man jetzt ein veröffentlichtes Tagebuch von jemandem bekommt, zugespielt bekommt, und da stehen dann irgendwelche Schweinereien über einen drin – wenn man dann die Größe hat, zu sagen “Gut, das ist ja das Tagebuch, das ist nicht das, was die Person öffentlich mir gegenüber äußert, und das ist nicht unbedingt die Wahrheit, sondern das ist die Tagebuchwahrheit”, wenn man diese Größe hat, dann ist natürlich den Überwachern, die damit lancieren, eine wichtige Waffe aus der Hand genommen, das ist ganz klar.
Ja, weitere Fragen?
Wie gesagt, die Tagebücher sind mal erschienen, bei dtv, es ist jetzt gerade leider nicht mehr lieferbar. Aber trotzdem ein sehr interessantes Buch, das man antiquarisch im ZVNB ganz leicht bekommen kann, wen das – oder wer vielleicht Interesse bekommen hat. Das ist natürlich auch alles viel feinschrittiger, ich hab’ das jetzt alles sehr gerafft, und nur sehr wenige Kernstellen gelesen. Das ist ein ganz langwieriger Prozess, wie Mühsam quasi versucht, auf dieses Wissen, dass andere mitlesen, nach und nach zu reagieren, und plötzlich anfängt, zu anderen zu sprechen, zur Zukunft zu sprechen, zu Nachgeborenen zu sprechen.
Das kann man eben, wenn man das wirklich im Verlauf ab 1920 oder 19 dann die Einträge liest, wird das eben sehr, sehr deutlich. Und auch die Härte der anderen Haftbedingungen, das ist schon sehr interessant. Vor allen Dingen historisch, wenn man gleichzeitig weiß, dass Hitler da in Landsberg saß und von seinem Gefängnisdirektor Otto Leiboldt [?] nach Kräften hofiert wurde. Da hätte vielleicht die Überwachungsleistung an dem Hitler – wäre ein bisschen besser angelegt gewesen, welthistorisch, als bei Mühsam.
Frage: Was mich interessieren würde, wäre quasi auch diese schöne Taktik der Überaffirmation als Strategie, dass man quasi automatisch generierte Zusatzeinträge in seine Emails – dass da heute Bombe und Islam und so weiter automatisch zu Emails zugefügt wird – das ist ja eine Strategie, um die Überwacher quasi auszustechen, in ihrer eigenen… Aber die Frage ist natürlich, im Zeitalter der Terabytes, was das schon bringen soll.
JU: Das ist historisch das berühmte Beispiel, was angeblich in Dänemark mit den Judensternen eben war: dass dann alle Judenstern getragen haben, inklusive dem König. Dann geht es, dann funktioniert der Stern natürlich nicht mehr. Aber das ist natürlich eine kollektive Anstrengung, glaube ich. Wenn einzelne Wenige, die sowieso schon verdächtig sind, oder die dann dadurch verdächtig werden, dass sie sowas machen, das machen, dann ist es natürlich sehr schwer, damit irgendeine Wirkung zu erzielen. Aber wenn man das flächendeckend irgendwie machen könnte, wenn quasi flächendeckend alle Leute zehn verschiedene Homepages hätten, wo über sie zehn verschiedene Geschichten stehen, wo man wirklich nicht mehr weiß: was stimmt da jetzt, und man wirklich gleich – nicht leicht, oder nicht von Maschinen unterscheidbare Datensätze produzieren könnte - bei allen Äußerungen, die sich so unterscheiden, dass eben die Überwacher damit nicht zurechtkommen, oder man wirklich Human Intelligence dazu braucht, um das auszuwerten… Und dann wird’s natürlich sofort viel zu viel, dann kann das wahrscheinlich – dann könnte das eine Strategie sein. Aber es ist natürlich sehr aufwändig, so sein Tagebuch zu schreiben.
Eine Schulfreundin von mir, die hatte diesen Fall, dass ihre Mutter ihr Tagebuch gestohlen hatte. Oder: gestohlen… sie hat halt gemerkt, dass sie es gelesen hat, und das hat zu großen Verwerfungen geführt. Und die hat sich dann wirklich angewöhnt, das hat auch schon gereicht, eine eigene Schrift – die hat also im Alphabet immer einen Buchstaben versetzt geschrieben. Statt a: b, statt b: c, statt c: d, und das hat schon gereicht, diese Mutter hat das nicht gerafft, die hat weiter das Tagebuch gelesen.
Sie hat sich das angewöhnt, sie konnte – das war erstaunlich, die konnte genauso schnell schreiben wie im normalen Alphabet mit dieser versetzten Schrift, und hat dann so ihr Tagebuch geschrieben. Das ist der andere Weg: Verschlüsselung, in sehr einfacher, analoger Steinzeitform eben auch. Aber es ist alles natürlich mit Aufwand verbunden, und mit Energie, mit einer gewissen technischen Expertise, die man dafür braucht – sowohl im Analogen, und im Digitalen natürlich noch viel mehr.
Ja, noch weitere Fragen? Wenn nicht, dann danke ich für die Aufmerksamkeit, und wünsche noch einen schönen weiteren Kongress. Danke.
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Image source: https://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/medienkulturwissenschaft/forschu…
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